Pressemitteilung
Tragen Techniker, DAK-G und BARMER ihren politischen Streit
mit dem Bund auf dem Rücken ihrer Billstedter Versicherten aus?
Hamburg, 09.11.2022
Nach dem Ausstieg der drei Ersatzkassen Techniker, BARMER und DAK-Gesundheit aus der Finanzierung des in der Versorgung etablierten Hamburger Gesundheitskiosks bleibt dessen Zukunft weiterhin offen. Ein erneuter Versuch, die drei Vertragspartner an den Verhandlungstisch zu holen, scheiterte. Auch ein persönliches Gespräch zu den Beweggründen erfolgte nicht. Aufgrund der langjährigen Vertragspartnerschaft scheinen die ausschließlich an die Presse kommunizierten Gründe schwer glaubhaft und lassen vielmehr einen bundespolitischen Hintergrund vermuten.
Über 2.000 Versicherte, darunter viele Kinder und Familien, die im Rahmen der besonderen Versorgung durch den Gesundheitskiosk oder das Ärztenetz Billstedt/Horn e.V. vertraglich eingeschrieben sind, können daher ab dem kommenden Jahr nicht mehr gemeinsam versorgt werden.
Techniker, Barmer und DAK-G senden damit eine erschütternde Botschaft für die Gesundheitsversorgung der Bewohner:innen in Billstedt und Horn. Die finanzielle Beteiligung dieser drei Krankenkassen bewegt sich dabei im unteren sechsstelligen Bereich. Auf den Monat gerechnet geht es um durchschnittlich 9.000 Euro, die pro Kasse in den Gesundheitskiosk fließen. Das heißt, für aktuell 2.125 Versicherte der BARMER, DAK-G und TK fallen pro Jahr keine 140 Euro (exkl. Mwst.) pro Versicherten an.
Arzt-Pflege Tandem wird mit einem Federstrich ausgehebelt
Die Hälfte der Versicherten wird durch Ärztinnen und Ärzte an den Gesundheitskiosk überwiesen, z.B. Versicherte mit chronischen Erkrankungen, multimorbide Versicherte, junge Familien und Versicherte mit komplexen Problemlagen und einem erhöhten Beratungs- und Betreuungsbedarf. Versicherte wie Juliane H., Diabetes, schwere depressive Episoden. Seit drei Jahren im Gesundheitskiosk angebunden. Versichert in der BARMER, überwiesen durch ihren Hausarzt; oder Asefeh A., Übergewicht, Diabetes, Schlaganfall. Seit einem Jahr im Gesundheitskiosk eingebunden. Versichert bei der Techniker, überwiesen durch seine Hausärztin. Ayse M, Gelenkentzündungen, seit sieben Monaten im Gesundheitskiosk. Versichert in der DAK-G, überwiesen durch ihren Orthopäden. (Die Namen sind anonymisiert). Drei Patient:innen, drei unterschiedliche Krankheitsgeschichten, dreimal ein durch ihre Krankenkasse erzwungener Abbruch der ärztlich verordneten Gesundheitsberatung. Die Folgen: Über 2.000 Menschen, die strukturiert im Gesundheitskiosk angebunden sind, die eine bedarfsorientierte und interdisziplinäre Versorgung erhalten, ins Hilfesystem eingebunden sind, werden aus diesem System hinaus katapultiert – eine stabile und langfristige Verbesserung der Gesundheit dieser Menschen wird damit von den Kassen torpediert. Eine von den Ersatzkassen geforderte Verringerung von Krankheitskosten kann so langfristig nicht mehr erreicht werden.
Aus ärztlicher Sicht keine Akzeptanz für Versichertenselektion
Das Ärztenetz Billstedt-Horn e.V. kritisiert die Entscheidung der Kassen scharf. Dr. Jens Stadtmüller, Mitglied des Ärztlichen Beirats der Gesundheit für Billstedt-Horn UG, hält es für unvertretbar, Versicherte der AOK Rheinland/Hamburg under Mobilkrankenkasse gemeinsam mit dem Gesundheitskiosk versorgen zu können, allen anderen GKV-Versicherten aber kein Zugang zu den Angeboten gewährt wird. "Aus ärztlicher Sicht gibt es keine Akzeptanz für solch ein selektives Versorgungsmodell", so der Billstedter Kardiologe. Insbesondere mit Blick auf die höhere Krankheitslast und geringere Lebenserwartung in sozial benachteiligten großstädtischen Regionen sei dieser Schritt durch nichts zu rechtfertigen. „Die Zusammenarbeit mit dem Gesundheitskiosk hat maßgeblich dazu beigetragen, dass unsere Patientinnen und Patienten eine deutlich größere Compliance/Therapietreue entwickelt haben.“
Sozialberatung ist kein Bestandteil des Hamburger Gesundheitskiosks
Das Konzept des Hamburger Gesundheitskiosks zeichnete sich durch die niedrigschwellige, ganzheitliche und bedarfsorientierte pflegerisch-medizinische Bezugsbetreuung der Versicherten aus. „Insofern ist es auch falsch, wenn die Kassen von einer sozialarbeiterischen Ausrichtung oder Doppelversorgung hier sprechen“, sagt Cagla Kurtcu, Advanced Practice Nurse und Leiterin des Gesundheitskiosks. Die leitlinienbasierte pflegerische-medizinische Beratung im Gesundheitskiosk erfolgt durch examinierte, akademisierte Pflegefachkräfte – die s. g. Community Health Nurse (CHN) / Advanced Practice Nurse (APN). Die Betreuung und Beratung der Versicherten beginnt mit einer umfassenden standardisierten Anamnese (Sozial-, Familien-, und Krankheitsanamnese, Erfassung des Impfstatus) und einem pflegerischen Assessment. Je nach Interventionsbedarf und gemeinsamer Priorisierung werden Versicherte mit bestehenden Erkrankungen im Hinblick auf das Krankheitsverständnis für Diagnose, Therapie und Compliance sensibilisiert sowie über die damit einhergehenden Aspekte aufgeklärt (z.B. Ernährungsberatung, Beratung zu Risikofaktoren).
Bei weiterführendem Beratungsbedarf außerhalb des medizinisch-pflegerischen Leistungsumfangs bietet der Gesundheitskiosk Orientierung in dem komplexen Gesundheitssystem und den Angeboten der sozialen Hilfe, wie z.B. Pflegestützpunkte, Angebote der einzelnen Krankenkassen sowie die vielfältigen Angebote der Gesundheitsämter. Das Arzt-Pflege Tandem in der Form, wie es im Gesundheitskiosk aufgebaut wurde, sei in dieser Form in Billstedt und Horn einmalig und genieße ein großes Vertrauen bei den Bewohner:innen und Akteur:innen vor Ort, so Cagla Kurtcu.
Gesundheitskiosk steuert in einem komplexen Hilfesystem
Irritation herrscht in den im Billenetz zusammengeschlossenen sozialen Einrichtungen, die eng mit dem Gesundheitskiosk kooperieren. „Durch die medizinisch-pflegerische Beratung im Gesundheitskiosk wird unsere sozialpädagogische Arbeit in den Stadtteileinrichtungen sehr gut unterstützt, die Angebote ergänzen sich von daher perfekt“, sagt Sprecherin Bettina Rosenbusch. Für die Gesundheitsversorgung der Bewohner:innen in der Region sei der Gesundheitskiosk eine wichtige, hilfreiche und sehr gut akzeptierte Gesundheitseinrichtung. „Auf die können wir einfach nicht verzichten.“ Damit widerspricht Rosenbusch auch der Behauptung der drei Ersatzkassen, durch den Gesundheitskiosk würden Doppelstrukturen aufgebaut, die zu Mehrkosten führten. Menschen aus den Stadtteilen Billstedt und Horn sind nicht nur unzureichend über das Hilfesystem informiert, sondern erleben für sich zahlreiche Barrieren (sprachliche und Bildungsdefizite, Stigmatisierungsängste, etc.) die Angebote in Anspruch zu nehmen. Der Gesundheitskiosk informiert und bindet Versicherte demnach an geeignete und spezialisierte Angebote des sozialen Hilfesystems an.
Zweifel an den Motiven der Vertragspartner TK, DAK-G und BARMER
Einem Bericht des Hamburger Abendblattes vom 22. September 2022 zufolge argumentieren die drei Ersatzkassen auch mit einem Verbot der Aufsichtsbehörde, Einrichtungen wie den Gesundheitskiosk durch Kassenleistungen zu finanzieren. „Selbstverständlich verstößt der Vertrag zur besonderen Versorgung nicht gegen die Aufsicht“, sagt Alexander Fischer, Geschäftsführer der Gesundheit für Billstedt/Horn UG. Er verweist auf die Änderungen des § 140a Absatz 2 SGB V, die mit dem Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz zum 01.01.2021 eingeführt wurden und ausdrücklich die Fortführung ehemaliger Innovationsfondsprojekte erlauben. „Dies gibt den Krankenkassen Rechtsicherheit und ermöglicht die Durchführung und Weiterführung des Versorgungsmodells Gesundheitskiosk über den
Innovationsfonds hinaus.“ Wenn die Kassen jetzt mit einem Verbot durch die Aufsicht argumentierten, wecke dies Zweifel an ihren Motiven, so Fischer.
Das Schweigen der Landesregierung
Dr. Matthias Gruhl, Staatsrat a.D. der Stadt Hamburg, beschreibt im Observer Gesundheit vom 02.09.2022 das Grundproblem der Krankheitsspirale, denen Menschen in Stadtteilen wie Billstedt und Horn ausgesetzt sind und führt aus: „Wir haben ein Problem in der gesundheitlichen Versorgung von sozial benachteiligten Regionen[...].“ Insofern seien niedrigschwellige Angebote wie Gesundheitskioske „... in der Grauzone zwischen medizinischer Behandlung, Gesundheitsförderung, sozialen Diensten und individueller Situation ein international inzwischen bewährter Ansatzpunkt zur Verbesserung der gesundheitlichen und sozialen Lage in solchen Regionen.“
Unklar ist die Haltung des Hamburger Senats. War unter der Vorgängerregierung der Gesundheitskiosk noch ein Leuchtturmprojekt, hält sich die Sozialbehörde der heutigen Landesregierung auffällig zurück, obgleich das Angebot des Gesundheitskiosks in vollem Umfang den Anforderungen des Strategiepapiers Gesundheitskompetenz, das von der Hansestadt Hamburg entwickelt wurde, entspricht. Gleichwohl stellt die zuständige Sozialsenatorin Melanie Leonhardt auf der Sitzung des Gesundheitsausschusses der Hamburger Bürgerschaft vom 08. November 2022 öffentlich fest, dass die Stadt Hamburg keine Zwischenfinanzierung bis zum Inkrafttreten des geplanten Gesetzes übernehmen kann und darf. Die im Ausschuss geäußerte Kritik seitens der gesundheitspolitischen Sprecherin der SPD, Claudia Loss, dass anstelle des Gesundheitskiosk drei Hausarztpraxen finanziert werden könnten, weist Andrea Schild- Stadtmüller, Hausärztin und Mitglied des ärztlichen Beirats scharf zurück: „Der Gesundheitskiosk ist nicht durch mehr Arztpraxen zu ersetzen.“
In einem Schreiben an die Sozialsenatorin fordert der Landesseniorenbeirat Hamburg Melanie Leonhard eindringlich dazu auf, sich für den Fortbestand des Gesundheitskiosks einzusetzen, denn die Ersatzkassen würden ihren politischen Streit mit dem Bund auf dem Rücken der Patientinnen und Patienten austragen. „Der Landesseniorenbeirat bittet Sie, alles zu unternehmen, was den ungeschmälerten Fortbestand der Arbeit (...) unterstützt und fördert.“
Leistungen ab 2023 nur noch für Versicherte der AOK R/H und Mobil Krankenkasse
Dass der Hamburger Gesundheitskiosk in den fünf Jahren seiner Existenz diesen Ansatz erfolgreich umsetzt, hat u.a. den Gemeinsamen Bundesausschuss – das höchste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen – veranlasst, Teile des Konzeptes zur Überführung in die Regelversorgung vorzuschlagen. Und auch die Ampelkoalition brachte mit der Aufnahme in den Koalitionsvertrag sowie durch den Besuch des Gesundheitsministers zum Ausdruck, dass hier in Hamburg ein innovatives Versorgungmodell entstanden ist, welches in sozial benachteiligten Regionen die Gesundheitsversorgung neu definieren und organisieren kann.
Die AOK Rheinland/Hamburg und die Mobil Krankenkasse werden den Gesundheitskiosk über das Jahr 2022 hinaus weiterfinanzieren. Damit ist der rudimentäre Betrieb des Gesundheitskiosks gesichert, allerdings mit sehr schmerzhaften Einschnitten in der Personal- und Angebotsdecke, einer Reduzierung des Angebotes auf die Mitglieder eben dieser zwei Krankenkassen sowie verkürzten Öffnungszeiten der Gesundheitskioske in Billstedt und Mümmelmannsberg. Letzte Äußerungen aus dem Gesundheitsministerium deuten darauf hin, dass spätestens im Herbst 2023 das Gesetz zu der bundesweiten Einführung der Gesundheitskioske in Kraft tritt. Damit würde die Finanzierung der Hamburger Gesundheitskioske nicht mehr länger vom kurzsichtigen Entscheidungshorizont einzelner Kassen abhängen. Die Zeit bis dahin gilt es nun zu überbrücken.
Rückfragen bitte an
Gesundheit für Billstedt/Horn UG
Klaus Balzer, Kommunikation | Presse
Mobil: +49 (0)151 24029704